Der „Mütter*-Foto-Gap“ - oder: warum Mütter* eigentlich nie auf Fotos zu sehen sind

Titelbild: Natalie Stanczak, Sandsack Fotografie

Liebe Natalie, wir wollen heute zu einem so krass wichtigen Thema sprechen, das viel mehr Aufmerksamkeit verdient: und zwar über die Sichtbarkeit von Müttern* auf (Familien-)Fotos. Bevor wir aber ganz tief einsteigen, stell dich und deine Projekte gerne selbst kurz vor.

Klar, gerne! Mein Name ist Natalie Stanczak, ich bin 39 Jahre und lebe und arbeite als selbstständige dokumentarische Familien- und Porträtfotografin und Soziologin in Augsburg. Ich bin Mama von zwei Kindern und verheiratet.

Mit meiner Arbeit möchte ich mehrere Themen vereinen:

Zum einen geht es mir um mehr Sichtbarkeit von Müttern* und primären Sorgepersonen. Im Speziellen vor allem um die Sichtbarkeit von Care in diversen Lebensrealitäten und dem Aufzeigen von struktureller Ungleichheit. Um Sichtbarkeit im Familienalbum aber auch in der Gesellschaft. Es geht darum, dass Mütter* und ihre tägliche Care-Arbeit gezeigt werden müssen. Was das eigentlich alles bedeutet, dieses Mutter*sein. Wieviel Freude aber auch Anstrengung Mütter* heutzutage mit sich herumtragen.

Aus diesem Wunsch heraus habe ich auch den Hashtag bzw. die Challenge #mamawowarstdu ins Leben gerufen, in der ich Mütter* und Sorgepersonen dazu auffordere, Fotos von sich zu machen (Selbstporträts) oder auch machen zu lassen. Sich in den Fokus zu rücken, Raum und Zeit für sich zu fordern, um über das eigene Leben, den eigenen Körper, die eigene neue Rolle nachzudenken, denn das ist es doch was die perfekte Mutter* eigentlich nicht tun sollte. Weil ich weiß, wie schwer das ist, biete ich mit meiner Kollegin Sonia Epple bald einen Selbstporträts Fotokurs an und gebe jetzt schon auch Impulse und Ideen auf unserem Instagram-Kanal @lewizual.

Mit der von mir und Nicole Noller gegründeten Kampagne Facesofmoms* versuche ich dann noch einen Schritt weiterzugehen. Neben unserem Instagram Kanal und unserem Buch „Bis eine* weint!“ versuchen wir durch Podiumsdiskussionen, Workshops und Ausstellungen noch mehr in den öffentlichen Raum zu treten und offene Fragen zu stellen. Fragen nach der Zukunft von Care und Gesellschaft.

Wie wird Mutter*schaft heute gelebt? Was ist das Normativ von Mutter*schaft? Wie wird sie in den Medien dargestellt? Wie beeinflusst uns das im Erleben des eigenen Mutter*seins? Was bedeuten Begriffe wie Sozialisation und Intersektionalität? Wie verändert Mutter*- und Elternschaft und was hat das alles mit uns und unserer Gesellschaft zu tun?

Wow, das berührt so viele Fragen und Themen, mich selbst privat und hier bei the weeks auch sehr beschäftigen. Gerade die Sichtbarkeit ist so ein riesiges Ding - denn, wenn ich durch mein Handy scrolle, habe ich ungefähr 10.261 Bilder von meinem Kind. Alleine, mit anderen Kindern, mit den Großeltern, mit dem Vater, mit Freund:innen von mir. Was ich eher wenig habe, sind Bilder von meinem Kind und MIR. Klar, ein paar Selfies, die ich von uns gemacht habe und ein paar Bilder von vor drei Jahren, als ich mit meinem Sohn und einer Freundin mit schon älteren Kindern Nudeln essen war und die spontan ein paar Fotos von uns gemacht hat, mit den Worten "Ich mache mal schnell ein paar Bilder, damit du auch welche von dir und M. hast.". Und ich weiß noch, dass ich erst Jahre später begriffen habe, was sie eigentlich meinte. Und wie wichtig diese Bilder für mich sind. Warum glaubst du ist das so - dass Mütter* so wenig auf Bildern zu sehen sind?

Jaaaa, jaaaa, jaaaa! Ich fühl das so sehr. Und so toll, dass du eine Freundin hast, die diese Bilder von euch gemacht hat. : )

Als mich damals mein Kind nach dem Urlaub fragte, ob ich denn überhaupt dabei gewesen war, fiel es mir zum ersten Mal auf: Ich war auf beinahe keinem der Urlaubsbilder und -videos zu sehen. Für meine Kinder war ich nicht dabei. Ich blätterte die Alben der letzten Jahre durch und fing an zu zählen, wie oft ich eigentlich auf Bildern zu sehen war. Und damit meine ich nicht ritualisierte Bilder, wie etwa Gruppenbilder zu Weihnachten oder auf Hochzeiten. Ich meine Bilder aus dem Alltag. Aus dem Leben. Ich fand nur eine Handvoll.

Vor allem die Zeit der Schwangerschaften und des Wochenbetts wurde fast gar nicht dokumentiert. Ich spielte mitunter die Hauptrolle, war aber selten zu sehen. Bei mir war es ähnlich, auf dem  Handy, in der Kamera überall kleine Fingerchen, Babygesichter, mit Oma, Opa, Papa und Tante. Beim ersten Baden, beim ersten Brei, bei allen ersten Malen. Aber kein einziges Bild von mir. Von meinem ersten Malen – mit Kind. Und das Krasseste dabei war, dass es bis dato auch niemandem aufgefallen war.

Ich fragte mich, ob das ein Einzelphänomen sei oder wirklich eine gesellschaftlich relevante Lücke. In meiner ersten Recherche stieß ich auf Laura Larsons Buch „Hidden Mothers“. Und erfuhr so, dass es „Unsichtbare Mütter“ es schon vor unserer Zeit gab, nämlich m 19. Jahrhundert. Anders als wir es heute vielleicht interpretieren würden aber ebenfalls unsichtbar, wurden Mütter* hinter Vorhängen und als Möbelstück umfunktioniert und hielten ihre Babys für ein Bild - oft stundenlang! Die relativ langen Belichtungszeiten der damaligen fotografischen Technologie forderten ein Stillleben oder ein Auskratzen oder Auslöschen der Mutter* in der Postproduktion. Es gibt wohl keine bessere Metapher für die Unsichtbarkeit von Pflegearbeit. Mütter* sind essentiell für das Entstehen der Bilder, aber ihr Erscheinen ist es nicht.

So ist es auch heute noch: Mütter* und primäre Sorgepersonen sind gar nicht oder zumindest viel zu selten auf Bildern zu sehen, obwohl sie in der Mehrheit immer noch diejenigen sind, die die meiste Pflegearbeit leisten. Die paradoxerweise auch das Erinnerungen sammeln als Teil der Care-Arbeit übernehmen. Es liegt in der „Natur“ der Sache, dass sie sich selbst dabei vergessen, und ist die logische Konsequenz einer Gesellschaft, die von Müttern* alles abverlangt und dabei alles stets im Hintergrund passieren soll. Für mich ist das Fehlen von Müttern* auf Bildern kein Einzelphänomen, sondern strukturell begründbar.

Ein „Mütter*-Foto-Gap“ sozusagen.

Aus meinem beruflichen Alltag kann ich sagen, dass es auch in der Mehrheit Mütter* sind, die sich auch professionelle Fotoaufnahmen wünschen und (in heterosexuellen Beziehungen) gleichzeitig wiederum meist die Väter, die über Familienkassen entscheiden und kein Geld für diesen „Luxus“ ausgeben möchten. Und/oder auch den Wert nicht sehen. Meist wird die Sehnsucht nach Bildern mit einem Augenrollen abgetan. Darüber hinaus gibt es auch viele Familien, die sich so ein Shooting schlichtweg nicht leisten können, auch wenn sie wollten. Überhaupt – ein Leben zu haben, das man als wertvoll erachtet, das man festhalten will, das man sehen möchte, das ist ein großes Privileg. Der „Mütter*-Foto-Gap“ ist für mich immer auch eine Klassenfrage und mit vielen Privilegien und Ressourcen verbunden. Sich daraus zu emanzipieren ist Arbeit und erfordert viele Kapazitäten, die nicht jeder Mensch hat.

Danke für diese enorm wichtige Einordnung. Und den Verweis darauf, dass Menschen (Mütter*) ihr Leben und sich selbst auch irgendwie als vorzeigbar empfinden müssen, um auf Bildern sichtbar zu werden. Glaubst du in diesem Zusammenhang auch, dass die Unsichtbarkeit damit zu tun hat, dass Mütter* sich und ihre Körper auf Bildern (gerade kurz nach einer Schwangerschaft) schrecklich finden? Wenn ja, was würdest du allen Müttern* da draußen gerne dazu sagen.

Auf jeden Fall sprichst du da was ganz Wichtiges an. Letztes Jahr hatte ich ein sehr schönes und gleichzeitig auch sehr ernüchterndes Gespräch mit einer Kundin. Sie wünschte sich schöne Bilder, aber sie glaube nicht daran, dass das bei ihrer Familie funktionieren würde, wenn sie sich so zeigten, wie sie sind. Sie kannte die Art, wie ich Familien fotografierte und war sehr verunsichert, ob denn auch bei ihr Zuhause so schöne Fotos herauskämen, wie bei den Familien, die ich auf Insta präsentierte. Sie sprach davon, nicht die perfekte Figur zu haben, 8 Wochen nach der Entbindung. Auch ihre Wohnung würde im Chaos versinken. Wir hatten zwei ganz wunderbare Gespräche über Schönheitsideale, Mutter*mythos, gesellschaftliche Erwartungen und ich versuchte ihr ihre Befürchtungen zu nehmen. Was mir aber dabei und auch immer wieder bewusst wurde: diese Gefühle sind nicht einfach nach zwei Gesprächen weg. Das alles sind langjährige weibliche Sozialisation und internalisierte gesellschaftliche Erwartungen an die Rolle als Mutter* und weibliche gelesene Person. Und die gehen nicht einfach weg, nur weil ein anderer Mensch sagt, „Hör auf so zu denken“. Es ist ein langer Weg, der viele Ressourcen erfordert, aber vielleicht kann ich euch mit meinem Weg etwas aufzeigen:

Mir ging es ähnlich und mir geht es sogar heute noch oft so. Aber in Bezug auf meine Bilder hat sich etwas verändert. Früher sah ich mich auf Bildern und schaute als erstes auf meinen Körper. Ich fand mich nicht schön in diesem neuen Körper und fand mich nicht zurecht in dieser neuen Rolle. Ich schaute nur darauf, wie ich aussah und nicht was auf diesen Bildern wirklich zu sehen war. Deswegen wollte ich – be-/unterbewusst - nicht fotografiert werden und glaubte nicht daran, es wert zu sein. Ich dachte es wäre eitel und peinlich, mich selbst zu fotografieren oder andere Menschen darum zu bitten. Dadurch sind mir viele wichtige Bilder und auch Erinnerungen verlorengegangen. Es hat lange gedauert, bis ich den Wert hinter den Bildern verstanden habe. Dass ich es wert bin, dass es eben nicht um die anderen geht, sondern um mich. Mich zu sehen. Gesehen zu werden. Mit Fotografien werden Familiengeschichten erzählt, die über Generationen weitergegeben werden und in Biografien übergehen. Wenn dabei Personen einfach immer fehlen, ist das ein Problem! Dabei meine ich nicht die Selfies, die du schon erwähnt hast oder ritualisierte Bilder, sondern wirklich auf Bildern aus dem Alltag. Im Sandkasten, im Bett, beim Vorlesen, beim Anziehen, beim Trösten und Kuscheln. Diese Bilder von Pflegearbeit, von Liebe, Freude, Trauer, Wut – all das, was Mutter*- und Elternschaft eben ausmacht.

Ich versuche langsam diese Lücke zu schließen. Aber das ist ein großes Privileg, dass nicht jede Mutter* bzw. Sorgeperson zu Teil wird. Das weiß ich. Aber was ich allen Müttern* und Sorgepersonen auf jeden Fall mitgeben möchte ist, dass sie wissen, dass sie es wert sind, Teil der Familiengeschichte zu sein.

DU BIST ES VERDAMMT NOCHMAL WERT!

Was für ein Appell! <3 Dann lass uns doch mal praktisch werden: Was rätst du Müttern* ganz konkret, um mehr Bilder von sich (auch alleine!) und ihren Kindern zu haben? Sollen sie das mehr einfordern, Bilder von sich selbst machen, ganz anders?

Wie oben schon erwähnt, es war und ist ein langer Weg, der viele Ressourcen, Raum und Zeit erfordert, auch für mich, weil oder obwohl ich Fotografin bin.

Es in der Familie, bei möglichen Lebenspartner*innen immer wieder zu erwähnen und die Sehnsucht nach diesen Bildern zu formulieren, kann ein Weg zu mehr Fotos sein, muss es jedoch nicht. Es kann lang dauern bis aus einem Augenrollen ein Foto wird.

Ein möglicher erster Schritt könnte eine Art „Tandem-Mama/Sorgeperson“ sein. Kennst du vielleicht eine Mama/Sorgeperson, der es ähnlich geht? Vielleicht könnt ihr euch mal mit euren Handys gegenseitig fotografieren? Oder mal eine Mama/Sorgeperson auf dem Spielplatz ansprechen?

Für Menschen, die niemanden um sich haben, der fotografieren könnte, würde ich empfehlen einfach mal das Handy anzumachen und kleine Videos oder mit dem Selbstauslöser Reihenaufnahmen. zu machen. Dazu das Handy auf die Fensterbank, Regal etc. stellen und laufen lassen. Dabei gar nicht groß nachdenken, niemanden positionieren oder zu irgendwas zwingen.

Ich habe für mich gemerkt, wie sehr ich diese Bilder brauche, vor allem auch um zu sehen, was mit mir und meiner Familie passiert ist. Um sowohl schöne als auch schmerzhafte Erinnerungen zu verarbeiten. Um Erkenntnisse zu sammeln und reflektieren zu können. Das Fotografieren und die Bilder haben etwas Heilsames für mich und ich muss zugeben, seitdem ich diese Bilder von mir habe, fühle ich mich besser. Zum einen, weil ich mich sehe und gesehen fühle und zum anderen, weil ich mir Raum und Zeit nehme, fernab jeglicher Care- und Lohnarbeit, fernab medialer Ideale und süßer Kinderfüßchen. Diese Selbstportraits sind meine Sprache geworden. Meine kleine Revolution. Haha.

Sich selbst mal in den Mittelpunkt zu stellen, sichtbar zu sein, Raum und Zeit nur für sich zu haben, das ist ein großes Privileg als Mutter*. Und das sollte es einfach nicht sein. Für niemanden!

Und gibt es neben Fotos aus deiner Sicht auch noch andere Möglichkeiten, Erinnerungen zu konservieren?

Insbesondere am Ende des Jahres bekomme ich hin und wieder dieses „Schlechte Gewissen“ Gefühl, wieder kein Jahresbuch für meine Kinder gestaltet zu haben. Und das ist ok, denn ich glaube ich habe so langsam begonnen, mich von der Vorstellung zu lösen alles richtig zu machen, vor allem in Bezug auf das Erinnerungen sammeln. Ich habe für mich einige Wege gefunden mein schlechtes Gewissen zu beruhigen und gleichzeitig meinen Sinn für Ästhetik, ohne diesem Erinnerungs-Mental-Load zu unterliegen. Naja, es funktioniert noch nicht zu 100% aber eben die meiste Zeit. Und dabei erlaube ich mir vor allem eins: chaotisch zu sein und auch Momente gehen zu lassen. Es gibt einfach keine falsche Art, Erinnerungen zu sammeln! Jeder Weg ist so, wie er ist und erzählt eure Geschichte. Lasst uns den Wert der Erinnerungen feiern, ohne uns von Perfektion unter Druck setzen zu lassen. Vielleicht können wir auch den Begriff des “Erinnerungen Sammelns” für uns neu begreifen, ihn umdeuten. Denn jede von uns erinnert schon, tagtäglich, auf ihre ganz eigene Art und Weise. Andere Möglichkeiten, ganz ohne Fotos, sind z. B. Audioaufnahmen und oder Handyvideos. Die folgenden drei sind meine 3 Lieblinge:

Familientagebuch
Dieses kleine überquellende Notizheft hat mir sehr geholfen, Frieden zu schließen mit dieser ganzen Erinnerungs-, Meilenstein- und Jahresbücher-Mentalload-Geschichte. Ich schreibe keine langen Texte, sondern notiere nur kurze Gedanken oder Erinnerungen in ein willkürliches Notizheft, um einfach irgendwelche Momente einzufangen. Ein Buch für beide Kinder, Schnipsel, Polaroids, Zeichnungen. Fertig. Alle Familienmitglieder haben Zugang, alles kann, nichts muss.

Thematische Fotobücher
Trotzdem muss ich zugeben, dass mein Fotografinnen-Herz gedruckte Alben überalles liebt. Deshalb habe ich angefangen zu bestimmten Themen oder auch für eine bestimmte Zeit im Jahr Fotobücher zu gestalten, mir Konzepte und Geschichten zu überlegen und es als eine Art Kunstfotobuchprojekt zu sehen. Mögliche Themen meiner Fotobücher sind: Die Zeit zwischen den Jahren, Der Sommer 2020, mamawowarstdu-Selbstporträts, Schwarz-Weiss Leben etc.

Der Erinnerungs-Karton
Alles Wichtige, was mir in die Hände fällt, landet darin. Schnipsel, Notizen, Eintrittskarten, Terminkalender, Erinnerungsstücke – alle Familienmitglieder bestimmen selbst, was hineinsoll. Totally Chaos aber pure Liebe, hehe.

Vielen Dank für dieses tolle Gespräch, Natalie!

 

Ihr findet Natalie Stanczak hier:

www.sandsackfotografie.de

@sandsack.fotografie

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